"...weil Buenos Aires tief ist." (Jorge Luis Borges)
Ist es ein Schachbrett? Das Himmel-und-Hölle-Spielfeld? Ein Labyrinth? Ein Ort? Oder doch ein metaphysischer Ort hinter, unter, über dem Ort? All das ist Buenos Aires, und die es am einprägsamsten beschrieben haben, die Dichter, sie wussten es, sie hielten alle Möglichkeiten offen.
Der Raster, der der Stadt zugrunde liegt, bleibt das Schachbrett. Spanisches Erbe. Darüber Pariser Träume. Dazwischen Anarchie und Chaos, die das Schachbrett überwuchern un jeder Ordnung spotten. Rechtwinkelige Straßen, die sich alle hundert Meter schneiden. Wo wohnst du? Fünfzehn Quadras von dir entfernt. Du gehst sechs geradeaus, vier nach rechts, fünf nach links und findest mich. Oder auch nicht. Es braucht Orientierungssinn, es braucht Aufmerksamkeit, weil sich in den Wohnvierteln alle Ecken gleichen, wei les wenig Wahrzeichen, Kirchen, Türme, gibt. Das Schachbrett wird schnell zum Labyrinth. Seine Struktur, so verführerisch klar, so logisch, so einfach, verwirrt. Unendliche Straßenzüge, parallel geführt. Du gehst, biegst ab, nochmal und nochmal, taumelst und verlierst dich und wirst erleben, was das heißt: die Quadratur des Kreises. Kommst wieder am Ausgangspunkt an, erkennst ihn nicht wieder.
Das Spiel, das Königsspiel, musst du behutsam und überlegt angehen. Mit kleinen, mit Bauernzügen eröffnen, nur kurz mal um die Ecke schielen. Die Läufersprints später und die Rösselsprünge erst, wenn du eingeübt bist und einen Überblick gewonnen hast. Fang auf der Avenida 9 de junio an, der breitesten Straße der Welt, oder im Mikrozentrum, auf der Florida, der Suipacha, der Esmeralda, oder am Hafen unten, am Fluss, der hier ein Meer ist. Der Dschungel, die Betonwildnis, der betäubende Lärm, die hochgiftige Luft werden dir zwar ins Spiel pfuschen, dich gelegentlich zu Fehlzügen verleiten - du biegst entnervt zu früh ab, bleibst bie der Avenida-Überquerung auf halbem Weg stecken -, aber du wirst das Brett hier trotzdem bald beherrschen, die internationalen Zeitungen finden, die berühmten Cafés, Schuhe aus Wasserschweinleder, Anzüge mit lausig eingenähten Dior-Etiketten, Paläste mit Innenhöfen, Pariser Reminiszenzen eben. Einst wollte Buenos Aires Paris werden, der Plan geriet überein paar prächtige Anfänge nicht hinaus.
Jetzt spielst du Schach auf dem Brett. Mit dir selber als Figur, als alle Figuren. Pass auf, dass dich das Brett nicht in die Irre führt und verschlingt. Pass auf, dass das Brett nicht zum Gegner wird, der dich matt setzt. Buenos Aires ist jedem gewachsen. Spiel das Spiel ohne Ziel, gewinnen kannst du nicht und nichts.
"Wie vom Teufel geritten steuert der struppige Chauffeur seinen colectivo [Bus] durch die Straßen. Schaltet mit Krachen und metallischem Kreischen. Fährt mit offenen Türen an, während der mit den Messern noch auf dem Trittbrett steht. Draußen sausen die alten Männer mit den Thermosflaschenwägelchen voll Kaffee vorbei, die Bikinischönheiten, die sich auf den paar Quadratmetern Grünflächen der Stadtparks räkeln, Frauen mit unförmigen Paketen behängt, magersüchtige Model-Aspirantinnen mit überlangen Beinen, gazellenhaftem Gang un Jupes mit der Dimension eines breiten Gürtels. Der eloquente Messerverkäufer präsentiert zuerst seine Kollektion blitzender, scharfgeschliffener Mordinstrumente in alle Grlößen und führt sie dann einzeln vor, schingt, sticht, wirbelt, spielt. Ein Gauchonachfahre. Ein Künstler. Der vom Teufel Gerittene rast, stoppt, würgt den Motor ab, reißt wütend am langen Schalthebel und knallt einen Gang rein. Der Balanceakt des Messerverkäufers und der Ritt des vom Teufel Besessenen gehen ein unio mistica ein. Ein Lächeln kräuselt beider Lippen, niemand kommt zuSchaden, eine Frau kauft ein Riesenmesser und beim nächsten Halt steigt der Gaucho aus." (Jorge Luis Borges)
Ausschnitt aus dem Buch "Wo der Süden im Norden liegt. Streifzüge durch das moderne Argentinien" von Christoph Kuhn.
Mittwoch, 3. September 2008
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